Plenarvorträge
Allgemeines
Die Teilnahme an den Plenarvorträgen steht allen Präsenzteilnehmern der Erfurter Psychotherapiewoche offen und ist durch die Grundgebühr abgedeckt. Es ist keine gesonderte Anmeldung erforderlich.
Für Online-Teilnehmer besteht die Möglichkeit, die Plenarvorträge separat zu buchen.
Die Plenarvorträge werden, wie auch der Abendvortrag und die durchlaufenden Vorlesungen, im Hybridmodus angeboten.
Mensch oder Maschine? Wer passt sich an wen an? Empathische KI als Freund, Partner und Therapeutin
Immer mehr Menschen nutzen Chatbots und Konsorten nicht nur, um kognitive Problem zu lösen, sondern um emotionale Zuwendung oder psychologische Hilfe in Krisensituationen zu erhalten. KI scheint sogar mehr Empathie für uns aufzubringen, als unsere Mitmenschen. Umgekehrt reagieren auch wir empathisch auf KI. Doch wie funktioniert empathische KI? Kann KI wirklich Empathie empfinden? Und wenn sie es nicht kann, warum empfinden wir Empathie mit ihr? Was bedeutet es für unser Zusammenleben, unsere Beziehungen und die Gesellschaft, wenn immer mehr Menschen KI als Freunde haben oder eine gar eine Liebesbeziehung mit ihr führen? Damit scheinen auch die letzten Bastionen der Menschlichkeit der Automatisierung anheim zu fallen. Kann das wirklich sein? Und soll es sein? Der Vortrag thematisiert aus technischer und ethischer Sicht, ob und wie empathische KI möglich und ob sie erstrebenswert ist.
Prof. Dr. Catrin Misselhorn ist seit 2019 Philosophieprofessorin an der Georg-August-Universität Göttingen. Zuvor hatte sie den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Uni Stuttgart inne. Seit 2019 ist sie Mitglied des Aufsichtsrats des Karlsruher Institut für Technologie (KIT): 2024 wurde sie zum ordentlichen Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen gewählt. Ihre Forschungsgebiete sind philosophische Probleme der KI, Roboter- und Maschinenethik. Sie ist Verfasserin einer Vielzahl internationaler Publikationen in diesem Themenfeld. Auf Deutsch veröffentlichte sie die Bücher: Künstliche Intelligenz – das Ende der Kunst? (Reclam-Verlag 2023, 3. Aufl. 2025) Künstliche Intelligenz und Empathie. Vom Leben mit Emotionserkennung, Sexrobotern & Co (Reclam-Verlag 2021, 3. Aufl. 2024).
Grundfragen der Maschinenethik (Reclam-Verlag 2018, 5. Auflage 2022, 3. Platz auf der Sachbuchbestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur)
Professorin für Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen.
E-Mail: catrin.misselhorn@uni-goettingen.de
Formen und Grenzen menschlicher Anpassung an ein totalitäres System
In ihrem Vortrag beschäftigt sie sich damit, wie sich vorwiegend im Stalinismus, die Menschen durch Anpassung, Traditionspflege und Belastungsausgleich mit dem stalinistischen Terror arrangierten, um zu überleben. Durch Interviews mit Überlebenden zeigte Scherbakowa die individuellen wie kollektiven Auswirkungen der Repression und ihre langfristigen Spuren. Dies muss gegen die russische Erinnerungspolitik erfolgen, die Verbrechen des Stalinismus verdrängt und Versuche einer kritischen Auseinandersetzung unterdrückt.
Irina Scherbakowa, Gründerin der bedeutendsten Menschenrechtsorganisation in Russland „Memorial", die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist Germanistin und Historikerin. In der Sowjetunion arbeitete sie zunächst als Übersetzerin deutscher Belletristik und als freie Journalistin. Darüber hinaus war sie als Redakteurin für die Literaturzeitschriften Sowjetliteratur und Literaturnaja gaseta und die Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta tätig. Von 1996 bis 2006 war sie Dozentin am Zentrum für Erzählte Geschichte und visuelle Anthropologie der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau (RGGU). Scherbakowa begann bereits Ende der 1970er Jahre mit der Sammlung von Tonbandinterviews mit Opfern des Stalinismus. Seit 1991 forschte sie in den Archiven des KGB.
Scherbakowas Forschungsgebiete umfassen Oral History, Totalitarismus, Stalinismus, Gulag und sowjetische Speziallager auf deutschem Boden nach 1945, Fragen des kulturellen Gedächtnisses in Russland und der Erinnerungspolitik. Seit Juli 2022 lebt sie im Exil in Deutschland, wo sie ihre Arbeit mit Memorial fortsetzt. Seit 1999 gehört sie dem Kuratorium der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar an. Sie ist Mitglied des Kuratoriums der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Vorstandsmitglied der Marion-Dönhoff-Stiftung. Von 2007 bis 2015 war sie Mitglied des Internationalen Beirats der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin, Gastprofessorin an der Universität Salzburg sowie am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seit 2010 ist Scherbakowa Ehrenmitglied des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL), seit 2012 im Internationalen Wissenschaftlichen Beirat des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien vertreten.
2005 wurde Scherbakowa mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 2014 erhielt sie den Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik, 2017 die vom Goethe-Institut vergebene Goethe-Medaille. 2022 wurde sie mit dem Marion Dönhoff Preis ausgezeichnet.
Auswahl von Büchern:
mit Volkhard Knigge (Hrsg.) Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956. Wallstein, Göttingen, Weimar 2012
Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015
Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte. Droemer, München 2017
Der Schlüssel würde noch passen. Moskauer Erinnerungen. Übersetzt von Jennie Seitz und Ruth Altenhofer. Droemer Knaur, München 2025
mit Filipp Dzyadko, Elena Zhemkova (Herausgeber): Memorial – Erinnern ist Widerstand C.H.Beck (Verlag), 2025
Friedensnobelpreisträgerin, russische Germanistin und Kulturwissenschaftlerin
Anpassung an Repression und Unrecht: Gesundheitliche Langzeitfolgen der SED-Diktatur und ihre Bewältigung
Seit über 35 Jahren ist die Wiederherstellung einer Einheit der beiden deutschen Staaten nun erfolgt. Vergleichbar mit der späten Aufarbeitung der NS-Diktatur und der Folgen des 2. Weltkriegs werden Funktionen und Wirkungen des SED-Staates immer noch und erneut bearbeitet und erforscht, was zu einer Reihe von überregionalen Forschungsverbünden führte, die sich zum einen mit dem Gesundheitssystem der DDR und der Versorgung ihrer Bürger auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit befassten (die Rede ist hier immer wieder von einer „Fürsorgediktatur“), wie auch mit den gesundheitlichen Folgen der (nicht nur politischen) Repression und anderer kennzeichnender Merkmale der DDR wie z. B. das systematische staatlich gelenkte Doping nicht nur im Leistungssport.
In dem Vortrag werden Befunde aus der jüngsten Forschung zu diesen Themen zusammengetragen und auch vor dem Hintergrund aktueller Diskurse um die Verarbeitung der DDR-Erfahrung auf einer gesellschaftlichen Ebene beschrieben. Es zeigt sich, dass die repressiven Strukturen und Methoden der SED-Diktatur, die im Laufe der Existenz der DDR auch maßgeblich verändert wurden, immer noch wirken - auf einer psychologischen, aber auch auf einer körperlichen Ebene - und vielen Personen eine Anpassung an das erlebte Unrecht bisher nicht gelingen konnte. In einem erweiterten Sinne wird derzeit die Thematik politischer bzw. historischer Traumatisierungen diskutiert (siehe den Vortrag von A. Maercker), ein Kontext der verdeutlicht, wie wichtig es ist, über die Grenzen, aber auch Möglichkeiten der Anpassung an Unrecht und Repression zu lernen und Konsequenzen für deren Ver- und Aufarbeitung zu diskutieren.
Bernhard Strauß ist Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie und vertritt die Fächer Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Prof. Strauß ist Autor, Herausgeber und Schriftleiter zahlreicher Bücher, Fachzeitschriften (z. B. der Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, Psychotherapeut) und Buchreihen. Er war Vorsitzender des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM), der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie (DGMP) und war 2008/2009 Präsident der Society for Psychotherapy Research (SPR). 2011 wurde er zum Kollegiaten der DFG für das Fachgebiet Klinische, Differentielle und Diagnostische Psychologie, Medizinische Psychologie gewählt.
Ausgewählte Buchveröffenlichungen:
Strauß, B. (Hrsg.) (2026) Psychotherapie in der DDR. Göttingen, Hogrefe. Strauß, B., Frommer, J., Schomerus, G., Spitzer, C. (Hrsg.) (2024) Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht. Gießen: Psychosozial-Verlag
Strauß, B., Erices, R., Guski-Leinwand, S., Kumbier, E. (Hrsg.) (2022). Seelenarbeit im Sozialismus – Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR. Gießen, Psychosozial-Verlag
Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Universitätsklinikum Jena, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie, Stoystr. 3, 07740 Jena
E-Mail:bernhard.strauss@med.uni-jena.de
Website: www.mpsy.uniklinikum-jena.de/Institut.html
Zwischen Selbstschutz und Anpassung: Resilienz kritisch reflektiert
Resilienz ist zum Zauberwort unserer Zeit geworden: Individuen wie Gesellschaften sollen resilient(er) werden, um Krisen unbeschadet zu überstehen. Das Versprechen klingt verlockend: Wer resilient ist, meistert mittels flexibler Anpassung selbst widrigste Umstände, ohne Handlungsfähigkeit, Lebensfreude oder Produktivität einzubüßen. Fragen nach Strukturen, Machtverhältnissen und den eigentlichen Ursachen von Krisen geraten dabei häufig in den Hintergrund. Der Vortrag zeichnet die Geschichte und Popularität von Resilienz nach und fragt, ob und wie sich Resilienz nicht nur als Anpassungsleistung, sondern auch als kritisches Werkzeug der Krisenbewältigung begreifen lässt.
Stefanie Graefe ist Soziologin und Privatdozentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie lehrt und forscht theoretisch und empirisch im Themenfeld Politische Soziologie und kritische Gesellschaftsanalyse und interessiert sich dabei besonders für die Frage, wie die radikalen Umbrüche der Gegenwart politisch, normativ und im Alltag verarbeitet werden. An der Universität Hamburg hat sie Soziologie, Politische Wissenschaft, Erziehungswissenschaft und Psychologie studiert und wurde dort 2006 mit einer Arbeit über Michel Foucault promoviert. 2014 hat sie sich an der Universität Jena in Soziologie mit einer Arbeit zur Soziologie des Alter(n)s habilitiert. Neben ihrer akademischen Tätigkeit hat sie mehrere Jahre freiberuflich in der gewerkschaftspolitischen Erwachsenenbildung gearbeitet.
Einige Publikation:
• Graefe, Stefanie (2019: Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassung. Bielefeld: transcript.
• Graefe, Stefanie/Becker, Karina (2021) (Hg.): Mit Resilienz durch die Krise? Anmerkungen zu einem gefragten Konzept. München: oekom.
• Graefe, Stefanie/Herb, Irina/Lettow, Susanne (Eds.) (2025): Dimensions
of Property in Reproduktive Economies. Practices, Structures, Discourses. Frankfurt/New York: Campus.
• Graefe, Stefanie (2025): „Resilienz“. In: Frank Becker et al. (Hg.) (2025), Glossar der Unsicherheit. Berlin: Neofelis, S. 203-208.
• Graefe, Stefanie (2023): Resilienz: normative Orientierung in der Vielfachkrise? In: Gunnar Folke Schuppert/Martin Repohl (Hg.), Resilienz. Beiträge zu einem Schlüsselbegriff postmoderner Gesellschaften. Baden-Baden: Nomos, S. 75-89.
• Graefe, Stefanie (2021): „Das späte Glück ist mit den Tapferen? Resilienz als problematische neue Altersnorm.“ In: Martin Staats/Jan Steinhaußen (Hg.), Resilienz im Alter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 291-309.
• Gahntz, Christian/Graefe, Stefanie (2016): Burnout. Die widersprüchliche Logik der Therapeutisierung von Arbeitsstress.“. In: Roland Anhorn/Marcus Balzereit (Hrsg.), Handbuch Therapeutisierung des Sozialen, Wiesbaden: Springer VS, S. 367-389.
• Graefe, Stefanie (2007): Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe. Frankfurt a. M./New York: Campus.
Autorin sowie Soziologin und Privatdozentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Familiengründung zwischen Anpassung und Überforderung
Neue Reproduktionstechnologien und ihre ethischen Herausforderungen
Seit der Geburt des ersten, durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindes im Jahr 1978 hat die moderne Reproduktionsmedizin weltweit einen unaufhaltsamen Aufstieg erfahren. Ungewollte Kinderlosigkeit - so scheint es - ist technisch behebbar. Neue sozio-technische Verfahren wie die Keimzellspende oder die Leihmutterschaft vervielfältigen die Optionen, Eltern zu werden und eine Familie zu gründen. Kann die Gesellschaft bei diesem rasanten Prozess mithalten, oder führt dies zu einer Überforderung aller Beteiligten? Was waren und sind die ethischen Herausforderungen dieses rasanten medizinischen Fortschritts?
Claudia Wiesemann ist Medizinethikerin und befasst sich seit mehr als 35 Jahren mit den ethischen Fragen von Medizin und Gesellschaft. Sie erforscht, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen von Fortpflanzung und Familiengründung unter den Bedingungen der modernen Reproduktionsmedizin verändern. Dabei sorgt sie sich auch um die Rechte von Kindern in der Medizin.
In vielfältigen gesellschaftlichen Konfliktfeldern war sie forschend und beratend tätig. Sie war Mitglied und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin und Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises Niedersachsen 2022 und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Einige Publikationen:
• Wiesemann C, Hädicke M., Günther M., Föcker M., Siebald M., Romer G. (Hrsg.) (2026). Trans* Geschlechtlichkeit bei Kindern und Jugendlichen. Einführung in eine professionelle und diskriminierungssensible Gesundheitsversorgung. Heidelberg, Springer. ISBN 978-3-662-71495-9
• Beier K, Brügge C, Thorn P, Wiesemann C (Hrsg.) (2020) Assistierte Reproduktion mit Hilfe Dritter. Medizin – Ethik – Psychologie – Recht Heidelberg, New York, Springer.
• Wiesemann C (2016) Moral Equality, Bioethics and the Child New York, Springer.
• Steinfath H, Wiesemann C et al. (Hrsg.) (2016) Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin. Heidelberg, Springer VS.
emeritierte Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen
